Crenshaw
Cover © S. Fischer-Verlag

Crenshaw

24. März 2022 Aus Von admin

Jackson ist ein sehr kluger und rationaler Junge. Wenn er groß ist, möchte er Wissenschaftler werden. Denn er schenkt nur solchen Dingen Glauben, die sich vernünftig erklären lassen wie Eins und Eins macht Zwei. Doch wie soll er sich Crenshaw erklären? Den schwarz-weißen Kater, der gern Schaumbäder nimmt und den nur er sehen kann?

Crenshaw ist Jackson nicht unbekannt: Schon nach der ersten Klasse ist er ihm begegnet. Aber warum ist er zurückgekommen? Jackson findet, dass er mittlerweile zu alt wird für imaginäre Freunde. Immerhin wird er nach den Sommerferien schon in die fünfte Klasse gehen.

Jackson wächst in schwierigen Umständen auf: Die Eltern verdienen nicht viel Geld und von dem bisschen, was sie verdienen, können sie kaum die Miete zahlen. Sie geben sich zwar Mühe, die Situation vor Jackson und seiner kleinen Schwester Robin geheim zu halten – aber Kinder merken so etwas eben doch.

Spätestens als die Familie aber aus ihrem Zuhause ausziehen und im Auto leben muss, wissen auch Außenstehende, was Sache ist. So wie der Polizist, der sie von einem Parkplatz wegschicken muss, aber erkennt, dass die Familie ohne Obdach ist. Er steckt Jackson einen Geldschein zu, den er seinem Vater erst dann geben darf, wenn sie losgefahren sind. Der Vater würde den Schein wahrscheinlich zurückgeben.

Scham ist ein großes Thema in diesem Buch. Jackson schämt sich jedoch nicht für die Bedürftigkeit der Familie. Sie ist ein Fakt. Fakten sind Jackson lieber als alles andere, denn sie sind echt, ehrlich und lassen nichts verschleiert. Aber wie soll er sich dann Crenshaw erklären? Seine oberste Maxime bröckelt. Er versucht seinen Phantasie-Freund zu verstecken, ja sogar zu vertreiben. Crenshaws Anwesenheit ist ihm peinlich. Doch irgendwann findet er es gut, dass Crenshaw für ihn da ist – nämlich immer dann, wenn er am liebsten heulen würde.

Ohne Rückgriff auf klischeehafte Motive der Armut, aber dafür mit einer taktvollen Hingabe an die Gedanken des aufmerksamen Jackson, erzählt Katherine Alice Applegate die Geschichte eines resilienten kleinen Jungen.

Geschichten sind Lügen – Wozu also lesen?

Applegate begann in den 1990er Jahren unter einem Pseudonym erste Bücher zu veröffentlichen. Sie erlangte Bekanntheit mit ihrer Sci-Fi-Buchreihe Animorphs, von der sich weltweit über 35 Millionen Exemplare verkauft haben. Für „Der unvergleichliche Ivan“ wurde sie 2013 mit der Newbery Medal ausgezeichnet.

Ursprünglich hat Applegate Tiermedizin studiert. Das erklärt vielleicht auch ihre Vorliebe für tierische Erzählfiguren. Sie nennt noch zwei weitere Gründe:

Two things. First, nonhuman narrators can give you a fresh perspective on the world, allowing you to say things, and to see things, you might otherwise overlook. Honestly, I think it’s sometimes easier to view humans through a nonhuman lens.

Tiere gehören auch zu Applegates Alltag. Sie lebt mit zwei Katzen – Scooter und Lightning – und einem Hund namens Stan zusammen. Lightning trug auch maßgeblich zur Entwicklung von „Crenshaw“ bei.

Jackson mag Tiere auch sehr und würde gern Tierwissenschaftler werden. Überhaupt ist er ein großer Freund von Fakten. Für Phantasie kann er sich nicht begeistern: „Geschichten sind letztendlich nur Lügen. Und ich lass mich nicht gern anlügen.“ (S.17) Darum liest er auch lieber wissenschaftliche Fachartikel. Zum Beispiel über Kinder und ihre imaginären Freunde.

Wie in einem Interview auf der Website der Autorin nachzulesen ist, mochte auch Applegate als Kind nicht gern lesen. Sie fand Lesen einfach sinnlos. Sie ermuntert aber jeden dazu, nicht voreilig aufzugeben. Man müsse einfach nur „das richtige Buch“ für sich finden. Für die Autorin war das „Charlotte‘s Web“.

The important thing is that when you find The Right Book—the book that makes you laugh or cry or understand the world a little better—you’ll see how reading can change your life. So if you haven’t found it yet, keep reading. Keep trying. It’s waiting for you on a bookshelf nearby. You’ll know it when you find it.

In Deutschland lebt jedes fünfte Kind in Armut

2,8 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren wachsen hierzulande in Armut auf. Obwohl wir wirtschaftlich in einem stabilen Land leben, ändert sich dieses Niveau kaum. Es handelt sich um ein strukturelles Problem. Durch die Corona-Pandemie hat sich die Situation weiter zugespitzt. Wir werden in den nächsten Jahren mit steigenden Armutszahlen rechnen müssen.

In Armut aufzuwachsen, wirkt sich auf viele Bereiche des Lebens aus: Wer kein Geld hat, wird oft vom sozialen Miteinander ausgegrenzt und beschämt. Armut und Bildungschancen stehen in direkter Verbindung zueinander. Schüler*innen aus einkommensschwachen Familien erreichen seltener das Abitur und schreiben sich infolgedessen auch kaum an Universitäten ein.

Kinder können nichts für ihre Lage

Kinder und Jugendliche können nichts dafür, dass sie arm sind. Sie können sich auch nicht aus eigener Kraft daraus befreien. Denn letztendlich ist Kinderarmut eben auch Familienarmut. Und dieser Zustand ist oft von Dauer und nicht nur temporär.

Armut schränkt ein. Denn die Jugendlichen und Kinder haben oft keinen Rückzugsort, keinen Schreibtisch für Schularbeiten, können seltener neue Kleidung kaufen. Mit Freund*innen ins Kino oder Essen zu gehen, ist meist nicht drin. An Urlaub oder Taschengeld ist nicht zu denken. Damit verpassen Kinder und Jugendliche wichtige Chancen, ihr Lebensumfeld auch verlassen zu können und z.B. auf Klassenfahrt zu gehen.

Alles Dinge, die es braucht, um nachhaltig ein Gefühl für ein verständnisvolles Miteinander aufzubauen. Einen Austausch zwischen den Kulturen zu fördern. Selbstwirksamkeit zu erleben und ein soziales Netzwerk aufzubauen.

Armut geht uns alle an

Kinder und Jugendlichen aus einkommensschwachen Familien erleben Ausgrenzung und Gewalt im familiären und schulischen Umfeld. Sie wachsen in Unsicherheit auf, können nicht für die Zukunft sparen, erhalten bei gleichen Leistungen seltener eine Empfehlung für das Gymnasium. Sie erkranken häufiger und neigen stärker zu negativem Gesundheitsverhalten (Essgewohnheiten, Bewegungsmangel, Rauchen). Auch psychische Belastungen treten vermehrt auf.

Somit kann eine Abwärtsspirale entstehen, aus denen die Kinder und Jugendlichen nicht mehr von allein herausfinden. Doch abgesehen von den individuellen Folgen, hat ihre Armut auch Auswirkungen auf die Gesellschaft im Ganzen:

Durch die schlechteren Bildungschancen fehlen diesen Menschen später die nötigen Schulabschlüsse für die Ergreifung einer Ausbildung oder eines Studiums. Sie landen dann vermehrt in prekären Arbeitsverhältnissen. Das bedeutet auch weniger Einzahlungen in die Versicherungen, das Rentensystem und Steuer. Aber auch der gesellschaftliche Zusammenhalt und die demokratische Stabilität werden dadurch geschwächt.

Es ist also wichtig, in die jüngsten Mitglieder unserer Gesellschaft zu investieren. Letztendlich lohnt es sich für uns alle.

Titel: Crenshaw
Autorin: Katherine Alice Applegate
Dt. Übersetzung: Brigitte Jakobeit
Ersterscheinung: 2015 (USA), 2017 (DE) im S. Fischer Verlag
Seiten: 224
Altersempfehlung: 10-12 Jahre
ISBN: 978-3-7335-0273-7
Preis Taschenbuch: 8,-€