
Mr Tiger, Betsy und das magische Wunscheis
Irgendwo auf der Welt gibt es eine kleine Insel, die man auf der Weltkarte vergessen hat. Auf dieser Insel lebt Betsy K. Glory, ein kleines Mädchen mit lila Haaren und grünen Augen. Ihr Papa Alfonso ist Eismacher und ihre Mama Myrtle eine Meerjungfrau. Weil es aber für eine Meerjungfrau schwierig ist, an Land zu leben, gehen ihre Eltern zwar getrennte Wege, aber haben sich immer noch gern.
Bei einem ihrer Ausflüge mit dem Eiswagen kommen Betsy und ihr Papa eines Tages mit einer Kröte ins Gespräch. Sie kennen sie zwar vom Sehen, aber mit ihr gesprochen haben sie noch nie. Diese Kröte ist eigentlich eine Prinzessin namens Albee. Doch Prinzessin Albee wurde von ihrer bösen Schwester Prinzessin Olaf in eine Amphibie verwandelt.
Den Zauber umzukehren ist gar nicht so einfach. Denn dafür braucht es ein magisches Wunscheis. Aber natürlich sind die Zutaten für dieses Eis nur schwer zu bekommen. Die Gongalongbeere – die Hauptzutat für diese spezielle Kreation – wächst nur bei einem blauen Mond. Aber wann ist der Mond schon blau? Und leider gibt es besagte Beeren auch nur auf der Insel Gongalong, auf der doch die böse Schwester herrscht.
Zum Glück weiß der mysteriöse Zirkusdirektor Mr Tiger Rat. Seine Akrobaten, die Gongalonen, stammen von der Insel Gongalong und kennen sich dort bestens aus. Dann braucht es nur noch ein paar pfiffige Ideen und so ein Mond ist in Null Komma Nixe blau eingefärbt und ein Wunscheis hergestellt – oder etwa nicht?
Roald Dahl lässt grüßen
Schon nach den ersten Seiten von „Mr Tiger, Betsy und das magische Wunscheis“ merkt man: Sally Gardners Stil ist märchenhaft. Sie kreiert verträumte Gedankenbilder und verleiht ihnen hier und da einen maritimen Touch mit Wortspielereien wie „Frag mich was Seichteres“ (S.21), „Null Komma Nixe“ oder „auch diesmal war ihre Mama zur Welle“ (beides S.30).
Die Wahl der Figuren, ihre Beschreibungen und Wortwahl erinnern dabei sehr an andere britische Kinderbücher. Ich musste ständig an „Matilda“ oder „James und der Riesenpfirsich“ von Roald Dahl (1916 – 1990) denken. Hier zum Beispiel: Zirkusdirektor Mr Tiger behält seine Gedanken gern erstmal für sich und sagt dann immer:
Katzen haben ihre Schnurren und Schnurrhaare, ihre Schwänke und Schwänze.
Gardner, Sally: „Mr Tiger, Betsy und das magische Wunscheis“, S. 64
Zum Vergleich aus einem Gedicht des Tausendfüßlers in Roald Dahls „James und der Riesenpfirsich“:
[…] Wir sehen ein Gnu, ein Gno und ein Gni,
Dahl, Roald: „James und der Riesenpfirsich“. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2. Auflage 2004: S.52
auch die giesige, geußliche Gnitze.
Sticht dich ihr Stachel, so sticht er ins Knie –
Bis hoch rauf zum Kopf ragt die Spitze. […]
Die Geschichte selbst ist zwar mit niedlichen Wortspielen gespickt, aber bleibt insgesamt etwas flach. Es gibt sehr viele Charaktere, die stellenweise unausgereift wirken. Prinzessin Albee zeichnet sich hier durch wenig Interessantes aus. Die Gongalonen wirken wie fleißige Bienchen, aber keiner trägt einen Namen. Man denke an die Oompa Loompas. Die Gefühlswelt des Riesen Iwan lernen wir noch am besten kennen.
Stellenweise gibt es logische Brüche und Unklarheiten. Mal springt die Geschichte von Punkt zu Punkt. Belangloseren Szenen wie Iwans optischem Make-Over werden viel Platz eingeräumt, in diesem Fall ein ganzes Kapitel. Der Ernte der Gongalongbeeren, einem zentralen Element der Geschichte, werden gerade mal 4 (halbvolle) Seiten von insgesamt 185 gewidmet.
Es ist auch schade, dass Betsys Anwesenheit wenig zum Abenteuer beiträgt. Oft begleitet sie nur andere. Das Eis macht der Vater. Den Mond blau zu verhüllen ist Mr Tigers Idee, die durch Prinzessin Albees Wunsch umgesetzt wird. Betsy kommentiert zumeist, wundert sich an Stelle der Leser*innen, aber handelt kaum selbst.
Meerjungfrauen waschen und Männer tüfteln
Manchmal überkam mich beim Lesen das Gefühl: Hier werden Stereotype verarbeitet und an anderer Stelle durch kleine Einschnitte wieder aufgebrochen. Das ist bei einer märchen-ähnlichen Erzählung sicher nicht immer vermeidbar. Aber müssen Prinzessinnen gerettet werden bzw. böse sein? Und tüfteln nur Männer an Plänen und entwerfen Maschinen so wie Eismacher Alfonso, der die Gongalong-Pflückmaschine entwickelt?
Aber zu Alfonso Glorys Ehrenrettung: Er ist quasi alleinerziehender Vater, versorgt Betsy und ist durch seine Überbesorgnis und Empfindsamkeit eher untypisch „männlich“ charakterisiert. Seine Figur erhält aber im Vergleich zur Mutter Myrtle deutlich mehr Raum. Wir erfahren zwar, dass die Mutter offener eingestellt ist und ihrer Tochter auch Freiheiten gewährt, die ihr Papa wohl nicht so einfach zugesagt hätte. Aber Myrtles Leben unter Wasser bleibt praktisch unbeleuchtet.
Generell kommen die wenigen Frauen nicht so günstig weg: Müssen Prinzessinnen gerettet werden und Meerjungfrauen das Zirkuszelt in den Wellen waschen, weil man es ja nicht am Strand tun könnte? Und was macht Betsy nun zu einer besonderen Identifikationsfigur? Im Titel taucht sie immerhin erst an zweiter Stelle auf.
Doch dann überrascht die Geschichte wieder mit ungewöhnlichen Aspekten: Ist Prinzessin Olaf transgender? Und wenn ja, warum ist Olaf dann ausgerechnet die*der Böse? Wer weiß…
Aber nun mal wieder etwas ernsthaft: Krasse Stereotype fährt die Geschichte letztlich nicht auf, die Rollen der Figuren sollten dennoch hinterfragt werden. In Hinblick auf Roald Dahl mag Gardner stilistisch nicht ganz so ausgefallen wirken. Aber man sollte nicht vergessen: Dafür hatte Dahl eine Menge kruder Ansichten und rassistischer Äußerungen in Petto. Gardner verdient für ihre liebevoll erzählte Geschichte eine Welle voller Anerkennung.
Autorin gegen alle Widrigkeiten
Zwar könnte „Mr Tiger, Betsy und das magische Wunscheis“ hier und da etwas Tiefe vertragen, aber lesenswert ist das Buch dennoch: Nicht nur ist es optisch hinreißend, sondern auch die Vorstellung eines magischen Wunscheises ist überaus verlockend. Die Namen der anderen Sorten, die Alfonso in die Waffel zaubert, sähe ich wirklich gern bei unserem Lieblings-Eiscafé in der Auslage:
Seine Prickelpitz-Geschmäcker, sein Schokozauber, sein Himbeerhimmel waren der Stoff, aus dem Träume gemacht sind.
ebd.: S. 8
Die Bilder, die Gardner in unseren Köpfen entstehen lassen kann, sind fabelhaft. Das Ausdenken wunderlicher Namen ist ihre Gabe. Und wenn man bedenkt, dass Gardner selbst erst mit 14 Jahren lesen und schreiben gelernt hat, ist dieses Buch eine großartige Errungenschaft. Es ist übrigens nur Eines von Vielen. Für „Maggot Moon“ wurde sie 2013 mit der Carnegie Medal ausgezeichnet. Weitere Bücher und mehr über Gardner könnt ihr auf ihrer Website erfahren.
Sally Gardner ist auf jeden Fall ein großes Vorbild für Menschen, die selbst mit Dyslexie oder anderen Herausforderungen zu kämpfen haben. Wer eine Geschichte hat, soll sie erzählen:
„Don’t feel a failure if you can’t spell. If you’ve got a story to tell, tell it.“
Die Farbe Blau und die Sache mit der Übersetzung
„Mr Tiger, Betsy und das magische Wunscheis“ wird von der Farbe Blau dominiert: Die Schrift, die Illustrationen von Nick Maland – alles blau. Das war zu Beginn für mich sehr gewöhnungsbedürftig, denn die blauen Texte haben meine Augen etwas herausgefordert. Nach ein paar Kapiteln ging es aber schon viel besser.
Die Gestaltung steht in Einklang zum sprachlichen Motiv des blauen Monds. Schade ist, dass diese englische Redewendung „Once in a blue moon“ im Deutschen (und womöglich in anderen Sprachen) leider nicht gut aufgeht.
Die Übersetzerin Susanne Hornfeck leistet hier jedoch ganze Arbeit und findet für viele schwierige Stellen gelungene deutsche Entsprechungen: „Wait a winnow“, wobei „winnow“ die Wanne ist, übersetzt sie eleganter mit „Warte ein Wälchen“ (S.17), um nur ein Beispiel anzuführen. In diesem Buch gab es sicher so einige Hindernisse zu umschiffen und Hornfeck hat das gekonnt geschafft.
Im Februar gibt es keinen blauen Mond
„Once in a blue moon“ meint, dass etwas sehr selten auftritt. Die Herkunft dieser Phrase ist nicht eindeutig belegt. Tatsächlich gibt es viele Möglichkeiten, den blauen Mond zu betrachten. In alten Liedtexten war er oft mit der unerfüllten Liebe assoziiert. Eine andere weitverbreitete Deutung ist, dass, wenn es in einem Monat zweimal Vollmond wird, der zweite Vollmond auch blauer Mond genannt wird.
Das ist gar nicht so unüblich und tritt auch genau alle 2,4 Jahre auf. Denn der Mondzyklus entspricht mit seiner Dauer von 29 Tagen 12 Stunden und 43 Minuten eben nicht der Dauer einer Monats. So kommen wir zu dem Fun Fact, dass es im Februar nie zwei Vollmonde geben kann – dafür aber hin und wieder gar keinen.
Ein Missverständnis
Zu der Interpretation des doppelten Vollmonds kam es allerdings durch die Verkettung seltsamer Ereignisse: Um 1940 erschien der Maine Farmer’s Almanac, in dem von der Erscheinung von vier statt üblicherweise drei Monden in einem bestimmten Zeitfenster die Rede war. Dieser vierte Mond wurde zum blauen Mond. Später bezog sich der Amateur-Astronom James High Pruett in „Sky & Telescope“ auf diese Beobachtung, verstand sie falsch und deutete sie so, wie eben beschrieben: Bei zwei Vollmonden im gleichen Monat ist der letzte als blauer Mond zu verstehen. Und so spricht man heute noch im englischsprachigen Raum von besagtem blauem Mond, ohne dass er in irgendeiner Weise blau erscheint. Wissenschaftliches Arbeiten will gelernt sein.
Gibt es nun also keine blauen Monde?
Das ist insgesamt sehr enttäuschend. So richtig blau wird unser Mond wohl nie werden, aber tatsächlich kann er schon mal in blauen Schimmer gehüllt sein. Das passiert vor allem dann, wenn Aschepartikel einer Größe von 1 Mikron, also einem Millionstel Meter, aufsteigen und die roten Wellenlängen zerstreuen, so dass die anderen Farben des Spektrums zur Erde durchdringen können.
Wenn also ein Vulkanausbruch oder auch Waldbrände auftreten, kann es so zu einer optischen Täuschung am Himmel kommen. Solche Ereignisse sind selbstverständlich nicht wünschenswert. Wir bleiben besser dabei: Manche Dinge treten besser selten oder nie auf. So wie ein blauer Mond.
Nick Malands Illustrationen
Nachdem so viel über das Buch und seine Referenzen zur Realität gesagt wurde, fehlt natürlich noch ein ganz wichtiger Punkt: Das Werk des Illustrators.
Nick Maland ist ein britischer Künstler. Er hat Schauspiel und Englisch studiert und arbeitete dann am London Fringe Theatre. Erst später kam er zum Zeichnen, gestaltete Poster und Bühnenbilder. Nach der Geburt seiner Tochter illustrierte er immer öfter Kinderbücher z. B. von Kathryn Cave („You’ve got Dragons“), Angela McAllister und Mara Bergman („Snip Snap“). Für Letzteres gewann er den Silver Award der American Society of Illustrators.
Seine blau-weißen Zeichnungen sind sehr detailreich und naturalistisch. Dabei strotzen sie vor Lebendigkeit und Einfallsreichtum. Am besten finde ich die Darstellung der Szene, in welcher Mr Tiger die Robustheit seines Zylinders erläutert. Maland findet für die nicht näher ausformulierten „Sicherheitsfunktionen“ überaus witzige Bilder – vom Hammer bis zum Schweißgerät. Wer an diesem oder seinen anderen Werke gefallen findet, kann sie in seinem Shop erwerben. Absolute Hingucker für jede Leseecke!
Titel: Mr Tiger, Betsy und das magische Wunscheis
Autorin: Sally Gardner
Illustrator: Nick Maland
Übersetzerin: Susanne Hornfeck
Jahr: 2020
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co.KG. München, Reihe Hanser
ISBN: 978-3-423-64067-1
Preis (Hardcover): 12,95 €